Über Verallgemeinerungen, Selbsthilfe und Aktivismus

Es gibt eine Diskussion in meiner digitalen Selbsthilfegruppe, die mich nicht nur nachdenklich stimmt, sondern zutiefst verletzt und enttäuscht. Diese möchte ich mit euch teilen.

Der Auslöser: Jemand teilte ein Video, in dem eine schwarze trans* Person über intersektionale Diskriminierung spricht und behauptet, dass weiße trans* Menschen ihre Privilegien als Weiße gerne ignorieren würden. Dazu wurde geschrieben: "Das sollte für alle weißen trans Menschen interessant sein."

Als daraufhin jemand antwortete, dass er sich nicht mit "sinnlosen Problemen anderer" beschäftigen wolle, entspann sich eine Diskussion, in der ich schließlich einwandte, dass niemand verpflichtet sei, sich mit allen Kämpfen gleichzeitig auseinanderzusetzen. Ich schrieb: "Niemand MUSS sich damit beschäftigen. Es gibt durchaus Menschen, die sich nicht auch noch die Probleme anderer Personen aufladen möchten. [...] Sicher können auch wir etwas dagegen tun, uns engagieren, laut werden und auch noch für queere PiBoC auf die Straße gehen. Aber niemand MUSS das tun. Es ist absolut legitim, sich nur um die eigenen Probleme zu kümmern, die wir weiße trans* Menschen auch zu Genüge haben."

Die Antwort darauf erschütterte mich: Mir wurde vorgeworfen, ich würde Rassismus und die Privilegien weißer Menschen ignorieren, nur weil ich die Position vertrat, dass nicht jeder trans Mensch die Kapazität hat, sich mit allen Formen der Diskriminierung gleichzeitig auseinanderzusetzen. Die Diskussion eskalierte bis zu dem Vorwurf, andere seien mir "unwichtig" und dem vernichtenden Urteil: "Weiße trans Frauen sind eben nur weiße Frauen, die ihre eigenen Privilegien nicht erkennen wollen und sich nur auf ihrer Diskriminierung ausruhen wollen."

Diese Aussage erschüttert mich zutiefst. Nicht nur, weil sie fundamental falsch ist, sondern weil sie meine gesamte Lebensarbeit negiert. Seit 2015 lebe ich offen als trans* Frau. Seit 2016 leite ich den Verein VDGE e.V., habe mehrere Selbsthilfegruppen gegründet und begleite mittlerweile rund 150 trans* Menschen auf ihrem Weg. Ich halte Vorträge an Schulen, Universitäten und in Kliniken, kämpfe öffentlich für unsere Rechte, und setze mich täglich allen Anfeindungen aus, die damit einhergehen.

Mir vorzuwerfen, ich würde mich nicht um andere kümmern, ist nicht nur falsch – es ist ein Schlag ins Gesicht für jede Stunde, jede Träne und jede schlaflose Nacht, die ich in meine Arbeit für unsere Community investiert habe. Gegen diesen Vorwurf muss ich mich mit aller Deutlichkeit zur Wehr setzen.

Warum diese Verallgemeinerung problematisch ist:

  1. Sie negiert individuelle Erfahrungen: Mein Lebensweg war geprägt von Mobbing, Suizidversuchen, Drogenabhängigkeit und Obdachlosigkeit. Diese Erfahrungen verschwinden nicht, weil ich weiß bin. Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte.
  2. Sie überfordert Betroffene: Viele trans* Menschen kämpfen täglich ums Überleben – psychisch, finanziell, sozial. Die Erwartung, dass jeder trans Mensch gleichzeitig für alle anderen marginalisierten Gruppen kämpfen MUSS, ignoriert die begrenzten Ressourcen Einzelner.
  3. Sie verwechselt Selbsthilfe mit Aktivismus: In einer Selbsthilfegruppe geht es darum, sich gegenseitig zu stützen in den eigenen, persönlichen Kämpfen. Das bedeutet nicht, dass wir andere Kämpfe ignorieren oder abwerten. Es bedeutet nur, dass nicht jeder Raum für jeden Kampf da sein muss oder kann.
  4. Sie verkennt mein tatsächliches Engagement: Ich habe jahrelang Aufbauarbeit geleistet, um sichere Räume für trans* Menschen zu schaffen, setze mich in der Öffentlichkeit exponiert unseren Feinden entgegen und teile sogar meine zutiefst traumatischen Erfahrungen, um anderen zu helfen. Mir Gleichgültigkeit vorzuwerfen ist absurd.
  5. Sie stellt ein "Entweder-Oder" auf, wo ein "Sowohl-Als-Auch" möglich wäre: Es ist falsch anzunehmen, dass wir entweder unsere eigenen Kämpfe führen ODER uns mit intersektionaler Diskriminierung beschäftigen können. Die Wahrheit ist: Manche können beides, manche können nur eines, und manche können zeitweise gar nichts davon, weil sie einfach nur überleben.

Was ich vertrete:

Als jemand, der seit Jahren Vorträge hält, Aufklärungsarbeit in Schulen leistet und in Kliniken über LGBT-Themen doziert, ist mir Intersektionalität nicht fremd. Ich weiß um meine Verantwortung und Privilegien. Mein Engagement für unsere Community spricht für sich. Jede Woche investiere ich unzählige Stunden ehrenamtlich, um andere trans* Menschen zu beraten, zu begleiten und zu unterstützen. Ich habe meine tiefsten Wunden öffentlich gemacht, um gesellschaftliches Bewusstsein zu schaffen.

Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob ich sage "Intersektionalität ist unwichtig" (was ich NIE gesagt habe) oder "Nicht jede*r hat die Kapazität, sich mit allen Formen der Diskriminierung aktiv auseinanderzusetzen" (was ich tatsächlich vertreten habe).

Das Video selbst ignoriert diesen entscheidenden Unterschied. Es ist nicht die Frage, ob weiße trans* Menschen ihre Privilegien erkennen sollen – natürlich sollen sie das. Es ist die Frage, ob es legitim ist, wenn jemand sagt: "Ich kann mich gerade nicht aktiv auch noch mit diesem Thema befassen, weil ich alle meine Kraft brauche, um meine eigenen Kämpfe zu bestehen."

Dass mir nach all meiner Arbeit, nach all dem emotionalen und zeitlichen Investment vorgeworfen wird, andere Menschen seien mir "unwichtig", trifft mich ins Mark. Es ist eine Verkennung all dessen, wofür ich stehe und wofür ich kämpfe.

ABER: Ich respektiere auch, dass nicht jeder trans Mensch die Kraft, die Ressourcen oder den Wunsch hat, über die eigenen Kämpfe hinaus aktiv zu werden. Das ist keine Ignoranz – es ist menschlich. Wir alle haben Grenzen. Wir alle haben Kapazitäten, die endlich sind.

Selbsthilfe ist kein Egoismus. Sie ist Überleben. Sie ist der erste Schritt zum Heilen. Manchmal ist sie alles, was wir schaffen können. Als jemand, der jahrelang am Rand des Abgrunds stand, weiß ich, wie kostbar jedes bisschen Kraft ist, das wir haben.

Viele in unseren Selbsthilfegruppen kämpfen mit täglicher Dysphorie, mit Jobverlust, mit familiärer Ablehnung, mit Suizidgedanken. Ihnen vorzuwerfen, sie würden "Rassismus ignorieren", weil sie gerade keine Energie für weitere Kämpfe haben, ist nicht nur unfair – es ist gefährlich. Denn es lädt ihnen noch mehr Last auf, die sie ohnehin schon kaum tragen können.

Ich setze mich weiterhin für alle trans* und inter* Menschen ein – unabhängig von Hautfarbe, Herkunft oder sozialem Status. Das beweise ich jeden Tag durch mein Handeln, nicht durch wohlfeile Worte oder durch Verurteilung anderer, die ihren eigenen Weg gehen.

Aber ich werde niemals zulassen, dass Menschen, die gerade erst lernen zu atmen, vorgeworfen wird, sie würden nicht genug rennen. Und ich werde mich mit aller Entschiedenheit gegen den Vorwurf wehren, mir seien andere Menschen unwichtig – wenn mein Leben und meine Arbeit so deutlich das Gegenteil zeigen.

Wir sind eine Community, keine Konkurrenz verschiedener Identitäten. Lasst uns einander zuhören, ohne zu verurteilen. Lasst uns verstehen, dass jeder Kampf wichtig ist – auch wenn es manchmal nur der Kampf ist, den nächsten Tag zu überleben.

In Solidarität, aber auch in Selbstachtung, 
Christin Löhner

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